Montag, 22. April 2013

Mittagessen


Das kränkelnde Kind beugt sich über die Teppichstange. 
Die Mutter schaut aus dem Küchenfenster. Ihre Äderchen im Gesicht sind so rot wie ihre Hände, die sie von der Bete nicht mehr sauber kriegt. Kirchenglocken schlagen zur Mittagszeit. Der Kirchturm wäre hoch genug. Aber da ist das Kind. Schuldig schlägt sie die Augenlider nieder und fahrt fort, die Kartoffeln zu rüsten.
Das mehlig gekochte Gemüse verschwindet durch die Löcher des Passevites und findet sich in veränderter Form in der Suppenschüssel wieder. Abwesend schaut die Mutter ihrer Arbeit zu, schaut zu, wie sie die Kartoffeln zerdrückt und lässt ihre Finger langsam in das blecherne Küchengerät gleiten. Sie dreht weiter.
Dem Kind ist das ganze Blut in den Kopf geflossen. Die Kirchenglocken schlagen erneut und es lässt sich auf den Boden fallen. Sein Magen knurrt. Mit beiden Händen öffnet es die angelehnte Küchentüre.
Es duftet nach Kartoffelsuppe. Die Schürze der Mutter liegt am Boden.

Mittwoch, 3. April 2013

Die Erkältung


Der Aschenbecher quillt über, im Kühlschrank herrscht gähnende Leere und der Nagellack auf meinen Fingernägeln unterstützt mein Erscheinungsbild dieser Tage auch nicht mehr. Komischerweise kann ich mich seit geraumer Zeit nur noch einer Aufgabe widmen: Dem Anstarren des Telefons. Hin und wieder stehe ich vom Boden auf – ich mag keine Telefontischchen – und tue so, als ob ich im nächsten Augenblick etwas Dringendes erledigen würde, setze mich dann aber doch wieder vor mein Telefon und muss mir eingestehen, dass ich unter diesen Umständen einfach zu nichts anderem fähig bin, als zu warten.
Es klingelt.

Ich saß im Raucherabteil des 17.37-er IC nach Basel, welcher jedoch noch nicht losgefahren war, da er einen verspäteten Zug abwartete. Aus meinen Kopfhörern spielte ein klavierlastiges Lied in Moll. Ich genoss den Anblick des hektischen Treibens auf dem Perron, welches durch die musikalische Untermalung die Gestalt eines Films annahm. Doch dann blieben meine Augen an einem der Darsteller haften. Es mag etwas abgedroschen sein, wenn ich behaupte, noch nie so eine wundervolle Person gesehen zu haben. So soll es; mir fällt beim besten Willen nichts Besseres dazu ein.
Angestrengt verfolgte ich ihn mit meinem Blick in der Menschenmasse, doch verlor ich ihn kurzum. Aus der Traum. Der Zug bewegte sich ruckartig, verließ in ansteigendem Tempo den Bahnhof. Ich schaute immer noch hoffnungsvoll aus dem Fenster, als ich hinter mir eine Stimme vernahm. Obwohl ich die Frage nicht verstand, ging ich davon aus, dass es sich um die „Ist-hier-noch-frei?“-Frage handelte, und so nickte ich abwesend, während ich mich auf meinem Sitz einrichtete. Ich registrierte kurz, wer sich mir gegenüber hingesetzt hatte, wandte mich ab und schaute ein zweites Mal. Er war es. Meine Hände fuhren zu meinen Kopfhörern empor, um diese abzunehmen, auf meinen Lippen formten sich die ersten Worte. Aber ich schwieg und schaute aus dem Fenster. Häuser und Strassen zogen an meinem Blick vorbei. Ich sah nichts. Fahrgäste zündeten sich Zigaretten an. Ich wollte auch. Ich konnte nicht. Mein Verstand schien aus allen erdenklichen Konzepten zu geraten, dafür stieg an dessen Stelle das beinahe schmerzhafte Pochen meines Herzens.
Was sollte ich denn tun? Dich einfach aus dem Zug aussteigen lassen, ohne auch nur die geringste Anstrengung unternommen zu haben, um irgendetwas über dich zu erfahren? Doch blieben alle Funktionen, die das Sprechen ermöglichen, ausgeschaltet. Fünfundvierzig Minuten der einstündigen Zugfahrt waren jäh verstrichen. Die Musik, welche in meine Ohren floss, nahm ich kaum mehr wahr und der Bilderstreifen vor dem Zugfenster bündelte sich zu einem gegenstandslosen Farbenstrahl. In meinem Magen formte sich das Gefühl des Unmuts und bahnte sich seinen Weg durch die Speiseröhre Richtung Mund, wo sich ein saurer Geschmack bildete.
Basel. Er stand auf und ich erkannte, wie sich seine Lippen zu einem Wort formten, welches an mich gewandt schien. „Tschüss“, sagte ich, ohne mich selbst zu hören, und war mir somit auch nicht sicher, ob ich es denn tatsächlich ausgesprochen hatte.
So stiegen wir aus dem Zug. Du gingst nach links. Ich blieb stehen, schaute dir nach und machte mich nach rechts davon.

„...Husten und Schnupfen.“ „...-...“ „Nein, ich weiß nicht, wann ich wieder zur Arbeit kommen kann.“ „...-...“ Ich lege den Hörer auf die Gabel, setze mich zurück an meinen Beobachtungspunkt und starre das Telefon an.